
Jean-Yves Le Drian (Grafik: http://www.gouvernement.fr)
Der Wahlkampf um das Amt des französischen Staatspräsidenten zwischen François Hollande und Nicolas Sarkozy im vergangenen Frühling stieß auch bei uns in Deutschland auf ein enormes mediales Interesse. Es wurde befürchtet, die deutsch-französische Zusammenarbeit könnte im Falle eines Wahlsieges Hollandes ein jähes Ende finden. Wie wir alle wissen, hat Hollande die Wahl tatsächlich für sich entschieden, und nicht nur dies. Die Parti Socialiste (PS) ging auch aus den folgenden Parlamentswahlen als deutlicher Sieger hervor. Das Interesse in der deutschen Medienlandschaft ebbte ab. Wer möchte denn schon Details über die politischen Inhalte und das Kabinett des neuen Premierministers Jean-Marc Ayrault erfahren? Das bedrückende Gefühl, die für Europa so wichtige deutsch-französische Kooperation könnte in der Folge dieses Regierungswechsels beeinträchtigt werden, existiert dessen ungeachtet weiter unter den Deutschen fort. Berechtigterweise? Exemplarisch soll zur Annäherung an diese Fragestellung eine grobe Skizze aktueller Meldungen aus dem französischen Verteidigungsministerium entworfen werden. Um Chancen und Grenzen einer weiteren verteidigungspolitischen Zusammenarbeit abwägen zu können, sollte man Akteure, Bestrebungen und Projekte in unserem Nachbarland zunächst einmal benennen.
Jean-Yves Le Drian, der Nachfolger Gérard Longuets im Amt des Ministre de la Défense, gilt als alter Weggefährte Hollandes und kann auf einen langen, erfahrungs- und abwechslungsreichen politischen Werdegang zurückblicken. Der an der Universität Rennes zum Historiker ausgebildete Le Drian wirkte sowohl auf der kommunal- und regionalpolitischen Ebene, etwa als Bürgermeister seiner Heimatstadt Lorient von 1981 bis 1998 als auch in Paris als Abgeordneter in der Assemblée Nationale und als Staatssekretär für maritime Fragen und Meeresangelegenheiten 1991/92 unter Édith Cresson. Darüberhinaus gilt er als überzeugter Europäer (siehe bsp.: Sueddeutsche.de, 16.05.2012). Was mag dies für die Verteidigungspolitik Frankreichs zur Folge haben? Eine ausreichende Zurkenntnisnahme der maritimen Komponente in der Sicherheitspolitik und eine Renaissance französischer Impulse für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik wären naheliegend und wünschenswert. Nach gerade einmal etwas mehr als hundert Tagen im Amt muss sich freilich noch herausstellen, inwiefern die Steine im französischen Ministerium in diese Richtung gerollt werden können.
Bereits heute deutet allerdings einiges in Richtung eines klar europäisch ausgerichteten Kurses Le Drians. Vor der politischen Sommerpause stattete Le Drian zahlreichen europäischen Kollegen Besuche ab und betonte in einem fortwährenden Reigen die Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit in Militärfragen. Nicolas Gros-Verheyde von Bruxelles2 fasste die Haltung Le Drians in der einfachen und treffsicheren Formel zusammen: Budget + Menaces = Coopération plus active, was bedeuten soll, dass die Zwänge der Haushaltspolitik und die aktuellen Bedrohungen zwangsläufig zu einer engeren Zusammenarbeit führen müssten (siehe: Bruxelles2, 09.08.2012). Eine Gleichung, die sich zwischen Idealtypus, normativem Anspruch und Utopie bewegt und in der Realität noch forciert werden wird.
Besonders vier Konditionen oder Problemstellungen der europäischen Verteidigung finden in den Ausführungen Le Drians immer wieder eine starke Akzentuierung. Erstens, die mannigfachen Sicherheitsedrohungen, die Europa auch heute noch zu beachten hat, wie die Probleme im Nahen Osten, Terrorismus, illegale Einwanderung etc. Zweitens, die strategische Umorientierung der USA von Europa weg in Richtung Pazifik. Drittens, die Sparpolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten, die sich in entscheidendem Maße auf die Verteidigungshaushalte auswirkt. Viertens, der normative Anspruch Europas einen eigenen strategischen Weg zu finden und sich in der künftigen Welt im Konzert der Großmächte zu behaupten. Innerhalb dieses Verteidigungs-Europas soll Frankreich, so Le Drian, eine Position einnehmen, die “pragmatique et humble”, also pragmatisch und bescheiden sein müsse. (siehe: Le Figaro, 03.09.2012). Ähnliches lässt sich auch aus einer Nachricht an die Truppe vom 22.08.2012 herauslesen, in der die “efforts collectifs”, die gemeinsamen Bemühungen einer europäischen Verteidigung gleich im ersten Absatz ausgeführt werden (siehe: defense.gouv.fr, 22.08.2012). Zuletzt trat Le Drian in Brüssel in Erscheinung und beriet mit Vertretern von EU und NATO über den künftig einzuschlagenden eurostrategischen Weg. Le Drian sieht Frankreich im absoluten Zentrum dieser Bemühungen, auch als Brücke zwischen London und Berlin (siehe: Le Figaro, 03.09.2012 ; defense.gouv.fr, 06.09.2012 und insbesondere den detaillierten Artikel Nicolas Gros-Verheydes Bruxelles2, 03.09.2012). Nicht ohne Grund wartete l’Express mit der reißerischen Schlagzeile auf, Le Drian mobilisiere in Brüssel das Europa der Verteidigung (siehe: L’Express, 07.09.2012).
Drei Projekte, die zwar ihre Ursprünge noch vor der Amtszeit Le Drians haben, die aber offenbar forciert werden und wohl mit neuen Ideen und Impulsen versehen werden könnten, sollen exemplarisch genannt werden: Die Erarbeitung des neuen Weißbuches, die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks und die Zusammenarbeit mit Großbritannien. Diese Projekte möchte ich nicht im einzelnen ausführen, sondern lediglich anschneiden und weiterführnde Verlinkungen anbieten.
Mit dem neuen Weißbuch möchte die französische Regierung auf die aktuellen Fragestellungen der Sicherheitspolitik adäquat reagieren, den groben Kurs der nächsten 15 Jahre bestimmen und die weitere Reintegration in die NATO-Strukturen planen. (siehe: defense.gouv.fr, 27.07.2012) Bemerkenswert ist, dass auch deutsche und britische Delegierte sowie Vertreter von NATO und EU Teil der erarbeitenden Kommission sind. Der deutsche Verteidigungsminister de Maizière bezeichnete dies unlängst als einmaliges Angebot in Europa. (siehe BMVg.de, 25.06.2012). Gewiss ist es eine Chance, europäische Ideen in die Erarbeitung eines nationalen Weißbuches einzubringen.
Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks, der Achse Paris-Berlin-Warschau, wird tiefergehende Kooperationen in der Landesverteidigung, der Forschung und Anschaffung von Waffen und Gerät, gemeinsame Übungen und Manöver sowie 2013 die Schaffung einer “Weimarer Battlegroup” zur Folge haben. Ob und wie diese bereits seit Jahren gefassten Pläne realisiert werden, bleibt abzuwarten (siehe Bruxelles2, 08.08.2012; DefenceIQ, 12.02.2011). Zumindest stellt dies ein interessantes und gewinnbringendes trinationales Projekt dar, das die Fähigkeit zur Zusammenarbeit der drei Nationen ausloten wird.
Mit den seit November 2010 geschlossenen Verträgen zwischen London und Paris versprechen sich die beiden Partner den Aufbau einer gemeinsamen konkurrenzfähigen Rüstungsindustrie und die Etablierung einer dauerhaften Fähigkeit zur militärischen Intervention (die in Libyen bsp. nicht gegeben war). Eine besonders gut herausgearbeitete und gelungene Bilanz dieser Beziehung bietet die DGAPanalyse 10, 27. August 2012, die ich dem interessierten Leser dringend empfehle, da sie auch die Gefahren für eine Spaltung der europäischen Sicherheitspolitik und die Optionen der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik aufzeigt.
Kurzum: Le Drian führt die bereits in der Aus- und Feinplanung befindlichen Projekte nicht nur fort, sondern erweckt gleichzeitig den Eindruck, man widme sich in Frankreich mit neuem Herzblut und Tatendrang den Aufgaben der europäischen gemeinsamen Verteidigung. Frankreich könnte dabei nach einer “bescheidenen Führungsrolle” streben. Besonders öffentlichkeitswirksam propagiert Le Drian fast schon die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in Europa, wie seine Reden vor der eigenen Truppe, im europäischen Ausland und in Brüssel zahlreich bezeugen. Für überzeugte Europäer im Kontext der Sicherheitspolitik kling dies gut. Was letztendlich bewegt werden kann, bleibt sowohl im Hinblick auf die innenpolitische Stinmmung in Frankreich als auch im Hinblick auf die unabschätzbaren inneren Probleme der EU abzuwarten. Nicht zuletzt wird es auch von Deutschland und anderen Partnern abhängen, ob man diesen Kurs in einem ausreichenden Maße unterstützt oder wie so oft unentschlossen und paralysiert verharrt. Wenn Le Drian tatsächlich weiterhin derart deutliche und auch ehrliche und pragmatische Angebote für die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik macht, sollte gerade Deutschland als erster reagieren. Le Drian wird jedoch kein Messias der europäischen Verteidigung werden. Das Gefühl, einen überzeugten Europäer im Amt des französischen Verteidigungsministers zu wissen, darf dennoch zumindest einen kleinen Funken Hoffnung entzünden.